Kultur auf dem Klo

Es gibt im Landkreis noch vereinzelt jene Toilettenart, die schlicht Plumpsklo genannt wird. Natürlich laufen Plumpsklos nur noch unter der Rubrik, belächelte Vorstufen historischer Sanitärstätten zu sein - im Vergleich zu jenen klinisch hochaktuellen Kachel- oder Marmorzellen mit versenkbaren Hähnen, unsichtbaren Leitungen und teilweise schon elektronisch gesteuerten Bewässerungsabläufen in Kalt und Warm, mit Dickstrahl oder Feindusche. Für Klein oder Groß. Die heutigen Nachfahren der alten Klos sind wahlweise von Hochrenaissance bis zum Derniercrie-Stil zu haben. Und schon in Standardausrüstung mit Radio bzw. Mini-Fernseher. Ascher oder Ablageschale für Zeitung oder Obst. Hochkultur? Wir tun unseren Plumpsklos und anderen vergangenen Toilettenvorformen sehr, sehr unrecht. Vieles spricht dafür, daß sie die Rubrik und Behandlung von Kultstätten verdienen. Denn: Die alten Plumpsklos waren zwar physiohygienisch unvorbildlich, dafür aber auf allen Ebenen der Sinne (mit Ausnahme des Geruchssinns) psychisch-emotional eine ebensolche Entlastungshilfe wie für die Gedärme. Die Tageszeitung, das Radio auf dem postmodernen WC, die perfekten Spülungs- und Geruchspflege-Anlagen - sie halten den Menschen in derselben Stressintensität gefangen, mit der er diesen Ort flüchtig aufsucht, welcher nachweislich früher großen Geistern als Aufenthalt weit über die Profanbedürfnisse hinaus betreten, beschritten wurde. Onkel Wilhelm zum Beispiel: Er trauert dem Plumpsklo nach, auf dem er sich in seinem überlaufenen Pfarramt als letztes Refugium einschließen konnte. Dort verweilte er weit über das Nötige hinaus - und las. Er las richtige Bücher, ganze Wälzer - Geschichte des 19./20. Jahrhunderts (von Golo Mann) oder den noch dickeren Wallenstein". Er las dort Rilke-Gedichte und Henry Miller – letzteren, um seine Konfirmanden und andere besser begleiten zu können. Ein Freund Onkel Wilhelms - ein bekannter Kulturjournalist – las nicht so wertvolle Bücher, daß er sie hinterher von diesem Ort wieder mitnahm und in seine Bibliothek zurückstellte. Aber er nahm auf jenen Ort die kleinen Berge von Büchern mit, die er von Autoren und Verlagen mit der Bitte um Rezension zugesandt erhielt, im Schnitt täglich 5 Stück. Dort las er sie soweit an, um zu wissen, ob sie weitere Lektüre lohnten. Öffentliches Lob oder Verriss. Die Entscheidung dafür fiel auf diesem Ort, der ein unerkannt zentraler ist. Auch Tante Helgas Schwiegervater las Bücher auf dem Klo. Es waren alte Schwarten, von denen er sich trennen musste, wenn er ein neues Buch kaufte, welches sonst nicht in die begrenzten Regale gepasst hätte. Auf dem intimsten Sitzplatz dieser Erde las dieser Mann dann diejenigen Seiten, die er dann herausriss - um sie als folgerichtigen Schluss des Verdauungsvorgangs hinter sich zu nutzen. Schließlich gab es im Nachkriegsdeutschland noch keinerlei Toilettenpapier für Normalbürger. Und wenn - dann war dieses meist weniger die hinteren Weichteile schonend als der Neuenkirchener Kalender oder die abendländische Philosophie in Dünndruck. Diese Technik von Tante Helgas Schwiegervater entsprach zudem einem wirklich ganzheitlichen Kreislauf - der physisch-biologische Verdauungskreislauf wurde gekoppelt mit dem der Psyche und des Geistes. Und das ging nur in einem Raum dem alten, zu Unrecht belächelten Klo. Das neue Super-WC mit Radio und anderen Nachrichtenverfolgern verhindern diese Maße. Geschweige kann man auf den neuen Orten das, was die Sinne unserer Vorfahren noch außer Lesen vermochten: Wirklich bewusst Hören. Denn eine plattdeutsche Bezeichnung für das alte Klo heißt „Pitsch- klack", was wahrnehmungspsychologisch die genaue Bezeichnung dafür war, was akustisch in welcher Reihenfolge passierte. Unsere Alten konnten noch ganzheitlich wahrnehmen - weswegen ich sehr gerne jene Bekannten um Uelzen besuche, die solche Orte noch haben und gar nicht wissen, was sie da (nicht) besitzen.

18. Juni 1996